Geschichte

Geschichte der Juden in Bielefeld vor der nationalsozialistischen Machtergreifung (1933)

Möglicherweise ist die Geschichte der jüdischen Gemeinde in Bielefeld so alt wie die Geschichte der Stadt selbst (Stadtgründung 1214). Der früheste dokumentarische Nachweis über die Ansiedlung von Juden stammt allerdings erst aus der Mitte des 14. Jahrhunderts. In einer Urkunde vom 23. April 1345 wird erwähnt, dass der Graf von Ravensberg dem Bielefelder Kanonikus Gottfried de Blomenberge Besitzungen und Abgaben verpfändet hatte, darunter auch die jährlichen Abgaben der Juden in Bielefeld.

Während der Zeit des "Schwarzen Todes" (Pest) in den Jahren 1348-1350 kam es unter dem Vorwurf, die Juden hätten sich mit den Aussätzigen gegen die Christenheit verschworen und die Brunnen vergiftet, in ganz Deutschland zu grausamen antijüdischen Ausschreitungen. Wie in zahlreichen anderen Städten wurden die Juden aus Bielefeld vertrieben. In Lübbecke soll es 1350 zu blutigen antijüdischen Massakern gekommen sein. Aufgrund finanzieller Erwartungen nahmen die Städte die vertriebenen Juden schon wenige Jahre später wieder auf. Für Erfurt, Nürnberg, Ulm, Speyer, Worms und Trier sind bereits zwischen 1352 und 1355 wieder Judenansiedlungen nachweisbar. Der Graf von Ravensberg, Wilhelm von Jülich, gestattete den Juden am 12.2.1370 die Rückkehr in ihre Heimat. Die in Bielefeld lebenden Juden (Saulus Vinoes, Simon Jutta, Nennkun von Hamelen, Nennken un Rethberghe, Johanna von Hamme mit Familien) standen von nun an unter unmittelbarem Schutz des Landesherrn, der ihnen die Sicherheit des Aufenthalts bzw. (beim Verlassen der Stadt) des Geleits verbürgte.

Auch 1384, 1408 und 1430 erwähnen Urkunden Judenansiedlungen in Bielefeld. Seit Mitte des 16. Jahrhunderts dürften in Bielefeld keine jüdischen Einwohner mehr ansässig gewesen sein, da Herzog Wilhelm V. von Jülich im Jahre 1554 für das ganze Land ein Aufenthaltsverbot für Juden erließ (sog. "Jülicher Polizeiverordnung"). Ende des 16. Jahrhunderts setzte wieder eine langsame Zuwanderung ein. Der erste Nachweis für eine neuerliche Einwanderung von Juden in Bielefeld lässt sich den "Ratsverhandlungen der Stadt Bielefeld" vom 11. Juli 1586 entnehmen, wonach einer Familie Hertz gegen Zahlung von 20 Thalern für kurze Zeit der Aufenthalt in der Stadt erlaubt wurde. Gegen Entrichtung einer weiteren Gebühr durfte diese auch andere Juden aufnehmen.

Nachdem 1647 die Hohenzollern die Grafschaft Ravensberg in Besitz genommen hatten, begann sich eine kontinuierliche Entwicklung der jüdischen Gemeinde in Bielefeld abzuzeichnen. Judenvertreibungen scheinen seitdem nicht mehr vorgekommen zu sein. Der Große Kurfürst Friedrich Wilhelm gestattete 1648 den beiden in Bielefeld lebenden jüdischen Familien Marcus Spanier und Salomon Reinbach in dem ihnen erteilten Geleitbrief (Schutzbrief), für 15 Jahre in Bielefeld zu wohnen und "ihren Handel und Wandel, in Kauffen und Verkauffen, es sey in gantzen Stücken oder mit Ehlen" zu treiben. Die ravensbergische Regierung, der Magistrat und die Bürger der Stadt werden angehalten, die beiden Judenfamilien "geleidlich wohnen zu lassen" und unter Vermeidung von Strafe und Ungnade ihnen "ihre gebührliche justitium administrieren zu lassen". Im Mai 1663 erfolgte eine Verlängerung des Patents auf zehn, im Januar 1673 auf weitere sechs Jahre. In einem Reskript an den Drosten zu Sparrenberg vom 24. November 1670 wird den Juden der Handel mit Garn, Linnenwand, Seiden und Kramwaren verboten und ihnen befohlen, dass sie sich allein mit dem "also genannten Lümmert (vermutlich Lombard, also Geldhandel, d. V.) Handelt vergnügen lassen sollen". Gleichzeitig sollten in der Stadt "keine Juden mehr als Marcus Spanier, Salomon Reinbach und den dritten, so gebrannt Wasser praeparieret, geduldet werden". Am 28. Juni 1673 heißt es dann allerdings in einem Reskript, dass sich in Bielefeld weitere Juden "eingeschlichen" hätten. Die Beamten zum Sparrenberg erhielten den Befehl, "dahin zu sehen, dass kein Jude mehr alss die beyde, so von uns vergleitet, und dann der sogenannde Juden Doctor sich zu Bielefeldt aufhalten". Der im Reskript von 1673 erwähnte "Juden Doctor zu Bielefeldt" - wahrscheinlich identisch mit dem 1670 genannten sog. "Dritten, so gebrannt Wasser praeparieret" - hiess Seligman Moses Reinbach und war ein Neffe des Salomon Reinbach. Über seine medizinische Ausbildung und Tätigkeit in Bielefeld ließ sich bisher nichts feststellen. Es dürfte sich um keinen studierten Mediziner, sondern eher um einen Bader oder Heilpraktiker gehandelt haben.

Wie anderen Ortes versuchte der Rat der Stadt Bielefeld die Erteilung der Judengeleite in der Hand zu behalten, konnte sich aber gegenüber der zu immer mehr Macht anwachsenden brandenburgisch-preußischen Zentralgewalt nicht durchsetzen. In einem von Kurfürst Friedrich III. erteilten General-Privileg für die Juden der Grafschaft Ravensberg (insgesamt 27 Familien) vom 23. Juni 1691 werden fünf Bielefelder Familien aufgeführt: Wolff Joseph, Selichman Salomon Reinbach, Nathan Marcus Spanier, Zacharias Jorchs Wittibe, Hennicke und Sara Abrahams Wittibe. Trotz der z.T. neuen Namen waren es allesamt Mitglieder der ursprünglichen Bielefelder Familien. Unter dem 27. Juni 1685 erwähnt Alemann in den Kollektaneen (Bd. 2 1687) ausser den o.g. Juden noch als in Bielefeld ansässig einen Heideman Levi und einen Bendix Salomon, die aber anscheinend kein Privileg besaßen. Im nächsten von König Friedrich Wilhelm erlassenen General-Privileg für die ravensbergischen Juden vom 31. März 1714 erscheinen sechs Bielefelder Familien, und zwar: Wolff Joseph, Joseph Wolff, Seeligman Scholeman Reinbach, Natan Marcus Spanier, Sara Abraham Witwe und Seeligmann Abraham. Dieselben Familien nennt der Bürgermeister Burggraffe in einer Auflistung aus den Jahren 1718/20. Ferner werden darin auch die Anzahl der Kinder sowie der bei den vergleiteten Familien wohnenden unvergleiteten Verwandten und der jüdischen Knechte und Mägde angegeben. Danach ergab sich zu jener Zeit für die jüdische Gemeinde eine Gesamtzahl von 30 Personen.

Dem Wortlaut der beiden General-Privilegien nach lebten im Dorf Schildesche 1691 ebenfalls fünf und im Jahre 1714 vier Familien: Samuel Abraham (1691 und 1714), Israel Levi (1691) und sein Sohn Wolff (1714), Jobst Moses (1691 und 1714), Jobst Levi (1691 und 1714) sowie Jacob David (1691).

Aufgrund einer Verordnung im Jahre 1723 mussten die Juden vom "platten Lande" in die "akzisebaren" Städte ziehen. Die "Akzise (-steuer)" in den Städten diente als Einnahme für den preußischen Landesherrn. Die Zwangsumsiedlung betraf auch die Juden in Schildesche, die dort offenbar hohes Ansehen genossen und deren Fortzug den Ort finanziell schädigte. Trotz verschiedener Eingaben hatten sie (die "meist betagten und sogar blinden Leute") nach einer sich bis 1729 erstreckenden Karenzzeit den Ort zu verlassen.

Die weitere kontinuierliche Entwicklung der in Bielefeld ansässigen jüdischen Familien im Laufe des 18. Jahrhunderts bis zur Emanzipationszeit kann in Anbetracht des damals in Preußen geltenden Judenreglements als typisch eingeschätzt werden. Um die Anzahl der jüdischen Familien in der Stadt nicht zu vermehren, konnte in der Regel nur ein Kind der Familie den väterlichen Schutzbrief erben. Auswärtige Juden hatten nur eine Chance auf Niederlassung in der Stadt, wenn ein Schutzjude ohne Hinterlassung von Kindern oder/und Witwe starb und so eine Vakanz eingetreten war.

Für ihr Geleit, d.h. ihr Recht, in Bielefeld zu wohnen und Handel zu treiben, mussten die Juden quartalsmäßig zu entrichtende Schutz- und Rekrutengelder zahlen. Außerdem zusätzliche Abgaben im Falle der Eheschließung (1722), des Todes, der Geburt eines zweiten Kindes sowie für die Bewilligung, ein Haus zu erwerben oder zu besitzen (Mitte des 18. Jahrhunderts wohnten die meisten Gemeindemitglieder in der Altstadt: Welle, Gehrenberg, Am Markt u.a.). Blieb die Zahlung aus oder wurde ein Jude mittellos, lief er Gefahr, sein Geleit zu verlieren (1747) und des Landes verwiesen zu werden. Dasselbe geschah, wenn sich ein Jude in irgendeiner Weise strafbar gemacht hatte (1720). Nach 1769 bestand ein Teil der Abgaben in der Verpflichtung, Porzellan in Berlin zu kaufen und dieses im Ausland abzusetzen. In all diesen Punkten galten für die Bielefelder Juden die allgemein in Preußen angewandten Bestimmungen. Wie in anderen Orten leisteten die Juden in Bielefeld außerdem besondere Abgaben an die Stadt. Aus den Kämmereirechnungen der Stadt vom Jahre 1723 an resultiert, dass die Juden eine "recognitio" in Höhe von neun Thalern und sechs Guten Groschen abführen mussten. Dieser Betrag blieb anscheinend während des gesamten 18. Jahrhunderts unverändert.

Die Handwerkszünfte blieben den Juden wie in den Jahrhunderten zuvor verschlossen. Die Privilegien von 1691 und 1714 - die Erteilung des 1691er Privilegs kostete die Ravensberger Juden 600 Thaler - sowie die für alle preußischen Landesteile erlassenen Gewerbeprivilegien von 1730 beschränkten auch den Handel der Juden auf bestimmte Gebiete. Die Juden durften "ihren Handel und Wandel, in Kauffen und Verkauffen, es sey in gantzen Stücken oder mit Ehlen, in Geld Ausleihen und Schlachten wie auch sonst ihre Nahrung auf Art und Weise, wie solches im Heiligen Römischen Reiche und Unsern Landen, in specie den Juden vergönnt und zugelassen ist" treiben. Versuche, den Handel auszuweiten, führten zu Beschwerden der Magistrate der Städte Bielefeld und Herford. Im Jahre 1719 drohten die Kauf- und Handelsleute in Bielefeld sogar, ihre Geschäfte zu schließen und die Stadt zu räumen, falls den Juden "wider alles Vermuten und so viele landesherrliche Versicherungen freier Handel gestattet werden sollte". Daraufhin wurde den Juden durch ein Reskript an den Drosten zu Sparrenberg verwehrt, ihren Handel zum Schaden der Städte zu erweitern.

Da man auf die von den Juden erhobenen Abgaben zur Ausgleichung des Staatshaushalts angewiesen war, schützten die preußischen Herrscher die den Juden gestatteten wenigen Handelssparten, verhinderten aber zugleich eine Ausdehnung des Handels, um eine Kollision mit alteingesessenen Zünften und Innungen zu vermeiden. Auch das unter der Herrschaft Friedrichs des Großen 1750 für alle preußischen Juden erlassene "Revidierte Generalprivilegium" schaffte keine Wandlung, sondern im Gegenteil noch neue Einschränkungen. Ferner verkündeten verschiedene Einzelerlasse ausdrückliche Verbote für bestimmte Gewerbezweige, z.B. im Jahre 1752 für das Wollwarengewerbe.

Von 1807 bis 1813 gehörte Bielefeld zum Königreich Westfalen unter Napoleons Bruder Jérôme. Durch ein königliches Dekret vom 27. Januar 1808 vollzog sich auch für die Bielefelder Juden eine grundlegende Änderung ihrer rechtlichen Verhältnisse: die Gewähr der Gleichberechtigung mit allen übrigen Untertanen. Der unterprivilegierte Status des Juden in der christlichen Gesellschaft, wie er am nachdrücklichsten gerade in den Privilegien und Schutz- oder Geleitbriefen, die er von der jeweiligen Herrschaft der Stadt oder des Landes zu erwerben hatte, zum Ausdruck kommt, schien beseitigt. Wenige Monate später erließ Jérôme ein weiteres Dekret, wonach "alle Juden dem Namen, unter dem sie bekannt sind, einen Beinamen hinzufügen sollen, welcher der Unterscheidungsname ihrer Familie werden soll". Insbesondere jüdische Geschäftsleute gaben ihren neuen Namen in Zeitungen bekannt. So erschienen 1808 in verschiedenen Ausgaben der "Wöchentlichen Minden'schen Anzeigen" u.a. folgende Ankündigungen von Bielefelder Juden:

Bisheriger NameNeuer Name
Jordan Marcus Aaronheime
Meyer JacobBornholm
Simon NathanDammann

Aufgrund der mit dem Bürgerrecht verbundenen Freizügigkeit zogen in jener Zeit nicht nur aus benachbarten Orten, sondern auch aus anderen Teilen Deutschlands, besonders aus Franken, Juden in das Ravensberger Land. Nachdem die Bielefelder jüdische Gemeinde knapp 30 Jahre zuvor 65 Personen umfasst hatte, war sie durch die Zuwanderung auf 89 Personen (25 Familien) im Jahre 1812 angewachsen, darunter Familien, die bis in die NS-Zeit hinein in Bielefeld ansässig blieben (u.a. Rose, Mosberg, Merfeld, Bonnin, Herzfeld). Im Jahre 1825 zählte die Gemeinde 134 Personen.

Nach Beseitigung der französischen Fremdherrschaft (1813) gestaltete sich die Lage der Juden in Bielefeld wie überhaupt in Preußen noch auf längere Zeit ungewiss. Das unter dem Einfluss des Freiherrn vom Stein 1812 erlassene Gesetz, das den Juden in Preußen die Bürgerrechte verliehen hatte ("Preußisches Emanzipationsedikt") und die emanzipatorische Gesetzgebung Jérômes wurden teilweise auf dem Verwaltungswege rückgängig gemacht. Die alteingesessenen jüdischen Bewohner Bielefelds (und das war die große Mehrheit) konnten sich aber gegen Zahlung eines Bürgergeldes ihre Anerkennung als Bürger sichern und nach einigem Zögern auch die während der französischen Besatzungszeit neuangesiedelten Juden. Der Zuzug weiterer Juden aus anderen deutschen Staaten wie auch aus preußischen Landesteilen außerhalb von Minden-Ravensberg blieb noch auf Jahre hin erschwert. Anträge auf Genehmigung wurden bis in die 20er Jahre des 19. Jahrhunderts häufig verweigert. Die volle Gleichberechtigung in allen gesellschaftlichen Bereichen einschließlich des Rechts zur Bekleidung öffentlicher Ämter ließ noch jahrelang auf sich warten.

Erst in den 60er Jahren, endgültig mit der Reichsgründung von 1871, fielen in Deutschland alle restlichen Rechtsbeschränkungen. Das betreffende Bundesgesetz des Norddeutschen Bundes vom 3. Juli 1869, das 1871 für alle Staaten des Deutschen Reiches Geltung erhielt, hat den Wortlaut: "Alle noch bestehenden, aus der Verschiedenheit des religiösen Bekenntnisses hergeleiteten Beschränkungen der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte werden hierdurch aufgehoben. Insbesondere soll die Befähigung zur Teilnahme an der Gemeinde- und Landesvertretung und zur Bekleidung öffentlicher Ämter vom religiösen Bekenntnis unabhängig sein".

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts gaben die Bielefelder Juden neben der allgemeinen Berufsbezeichnung Kaufmann oder Handelsmann folgende Berufszweige an: Bankier, vereidigter Makler, Taxator, Galanteriehändler, Kornhändler, Schlachter und Trödler. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren auch jüdische Rechtsanwälte und Ärzte (Augenklinik von Dr. Steinheim am Ulmenwall) in Bielefeld tätig. Obwohl keine Beschränkungen für Handwerksberufe mehr bestanden und bereits seit 1825 ein "Verein zur Förderung von Handwerkern unter den Juden" existierte, erlernten - abgesehen vom Fleischergewerbe - nur relativ wenige Juden Handwerksberufe. Die Juden in Bielefeld konzentrierten sich auch im 19. Jahrhundert überwiegend auf den kaufmännischen Sektor.